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BERICHT – Die anderen Quellen für die Militär Geschichte der Schweiz - Tagung 2021 der SVMM

Militärhistorische Forschung basiert immer noch weitgehend auf schriftlichen Quellen. Es existieren aber auch zahlreiche weitere Quellentypen wie etwa Objekte, Bild- oder Tonquellen. Das von der SVMM am 6. November 2021 in Solothurn im wunderschönen Rahmen des Museums Altes Zeughaus organisierte Kolloquium zielte darauf ab, die Vielfalt der potenziellen Quellen hervorzuheben und die sich daraus ergebenden Chancen aufzuzeigen. Zwölf Rednerinnen und Redner lieferten hochwertige Beiträge und rund 50 Zuhörende zeigten Interesse.


Zu Beginn erinnerte der Präsident der SVMM, Dominique Andrey, daran, dass Geschichte nicht einfach eine Auflistung von Daten und Schlachten ist; sie ist eine Kontextualisierung und Analyse von Situationen, Entscheidungen, Ereignissen und Konsequenzen im Laufe von Jahrzehnten und Jahrhunderten. Dabei muss man sich jedoch auf konkrete Fakten stützen können, nicht auf Vermutungen oder Legenden; Geschichte ist eine Wissenschaft. Die Quellen sind potenziell vielfältig und ergänzen sich, was man so gut wie möglich nutzen sollte. Der Fokus des Kolloquiums liegt nicht auf einem Geschichtsthema, sondern vielmehr auf einem Thema für die Geschichte; es knüpft an den Teil "Militärwissenschaften" der Vereinigung an.


Dr. Jonathan Frey ging auf den Aspekt der archäologischen Quellen, bzw. die Ausserdienstsetzung von Waffen und Munition anhand archäologischer Beispiele ein. Oft ist bei archäologischen Funden unklar, wieso sie an einem bestimmten Ort zum Vorschein kommen. Kombiniert man jedoch das Vorhandensein mehrerer unterschiedlicher Objekte an einem Ort, kann man teilweise Rückschlüsse die Gründe der Ausserdienstsetzung ziehen: Verlust, Deponierung, Entsorgung ... Man kann Vergleiche zu ähnlichen Fundsituationen ziehen, die an anderen Orten dokumentiert sind. Man kann aber auch auf andere Quellen beiziehen: Bilder, Texte, ... So kann man versuchen, die Umstände oder Gründe für die Ausserdienstsetzung der Fundstücke zu rekonstruieren, und so Faktenschnipsel beisteuern, die helfen, die Geschichte zu vervollständigen. Der Referent illustrierte seine Ausführungen mit der Vorstellung einiger Ausgrabungsstätten im Kanton Bern.

Adrian Baschung behandelte in seinem Referat die Chancen und Grenzen von militärischen Objekten als historische Quellen. Er zeigte, wie wichtig es ist, sie auf der Zeitachse zu verorten und ihre Handhabung zu beschreiben. Daraus kann man versuchen abzuleiten, welchen Einfluss sie auf ein bestimmtes Ereignis oder eine bestimmte Periode hatten, und umgekehrt, welche Phase der Geschichte eine bestimmte technologische Entwicklung hervorgebracht hat. Der Referent zeigte jedoch auf, wie wichtig es ist, andere Quellen beizuziehen, um Hypothesen bestätigen zu können und zu verhindern, dass Indizien in falsche Richtungen führen. Er untermauerte seine Ausführungen mit der detaillierten Analyse eines seltenen Gewehrs unbekannter Herkunft aus der Sammlung des Museums Burg Zug: Untersuchung der verschiedenen Komponenten, Vergleich mit Teilen von Objekten mit gleichem Aussehen, Suche nach Marken und Zeichen, Abgleich mit der Fachliteratur, Bewertung der Funktionsweisen bis hin zur Prüfung der Plausibilität der Handhabung.

Maurice Lovisa beschrieb, dass Bauwerke sehr langlebige und wichtige Spuren hinterlassen und architektonische Quellen nicht vernachlässigt werden sollten. Wie bei anderen Quellentypen auch, müssen weitere Informationen hinzugezogen werden, um zu plausiblen und möglichst gesicherten Erkenntnissen zu gelangen. Der Redner illustrierte seine Argumentation mit einigen Beispielen von Schweizer Befestigungsanlagen aus dem 19. und 20. Jahrhundert: Sie erklären gut die Entwicklung der strategischen Lage, der Verteidigungsdoktrin und der Bautechniken (Beton, Panzerungen, ...). Allerdings gibt es oft nur wenige Aufzeichnungen über die Planungs- und Bauphasen sowie über ihre Nutzung, da diese Anlagen geheim waren und es verboten war, über sie zu sprechen, geschweige denn eine Dokumentation zu erstellen oder aufzubewahren. Ironischerweise finden sich viele Aufzeichnungen und Fotos in ausländischen Archiven: durch Spionage wurden so indirekt wertvolle Quellen für die Schweizer Militärgeschichte geschaffen.

Prof. Dr. Regula Schmid Keeling befasste sich mit dem Bereich der Bildquellen. Bilder illustrieren, zeigen, erzählen etwas: sie können also helfen, eine historische Situation zu beschreiben oder zu verstehen. Allerdings sie allein oft schwer zu interpretieren und stehen in einem räumlichen und Gebrauchskontext: die scheinbare Objektivität eines Fotos kann durch den Bildausschnitt beeinträchtigt werden, ebenso wie ein älterer Stich von der künstlerischen oder imaginären Dosis abhängt, die der Künstler hineingelegt hat. Die Referentin konzentrierte sich in ihrem Vortrag auf Schweizer Bilderchroniken aus dem 15. und 16. Jahrhundert, in denen die Militärgeschichte und Schlachten reichlich illustriert sind. Diese Bilder illustrieren zwar den Text und zeigen Ereignisse, über die an anderer Stelle berichtet wird, sie liefern aber auch interessante Informationen über die Organisation, Kleidung und Ausrüstung der Truppen. Es sind jedoch die vermeintlichen Nebenschauplätze, die viele Informationen enthalten, die zwar nebensächlich scheinen, aber auf interessante Weise Mode, Bewegungen, Realien, gesellschaftliche Gruppen, Hierarchien uvm. beschreiben.

Severin Rüegg und Brigitte Paulowitz befassten sich mit dem Thema Filmquellen und deren Beitrag zur Militärgeschichte. Sie unterscheiden drei Gruppen: institutionelle Filme, die von der Armee selbst produziert wurden, private Filme, die von Soldaten im Dienst gedreht wurden, und externe Reportagen, die hauptsächlich von Fernsehsendern stammen. In ihrem Referat konzentrierten sich die Referierenden auf die vom Armeefilmdienst – dessen Geschichte kurz präsentiert wurde - produzierten Filme, von denen vier Ausschnitte gezeigt wurden. Die Bilder liefern zwar interessante Informationen über Uniformen, Ausrüstung und den Einsatz von Waffen und Systemen, helfen aber nur bedingt bei der Rekonstruktion von Ereignissen, auf Drehbüchern basieren; spektakuläre Aspekte, die auf Emotionen abzielen, überwiegen gegenüber objektiven Fakten, die der historischen Forschung dienen können. Jedoch können Aussagen darüber gemacht werden, wie die Armee repräsentiert werden wollte bzw. über die Veränderung der gesellschaftlichen Stellung der Armee. Anders verhält es sich mit technischen Filmen, Ausbildungsfilmen oder Filmen, die von der Truppe selbst gedreht wurden, die tatsächlich Informationen liefern können, die mit anderen Quellen ergänzt werden können.

Prof. Dr. Markus Furrer sprach über das Potenzial der Oral History für die Militärgeschichte an. Bei der Oral History geht es nicht darum, über Generationen hinweg mündlich überliefertes Wissen zu verwenden; es geht um direkte Erinnerungen von Menschen, die mit Situationen konfrontiert oder in Ereignisse verwickelt waren. Die Methode der Oral History stammt aus der Soziologie. Die Genauigkeit und Objektivität der Erinnerungen kann sich zwar im Laufe der Zeit ändern; in diesem Prozess geht es jedoch in erster Linie darum, die momentanen Empfindungen und persönlichen Erfahrungen zu sammeln, da diese die umfassenderen, aber manchmal einseitigen Sichtweisen ergänzen - oder sogar ausgleichen - können. Es können aber auch neue Erkenntnisse gewonnen werden, die nirgendwo sonst festgehalten wurden; wie bei anderen Quellen muss dann versucht werden, sie mit weiteren Informationen zu korrelieren. Eine der größten Herausforderung ist die Masse an Informationen, die eine mündliche Rede enthalten kann.

Dr. Daniel Jaquet behandelte die wenig bekannte experimentelle Geschichte. Dabei geht es nicht darum, Gegenstände mit althergebrachten Methoden zu rekonstruieren, sondern darum, verschiedene Quellen (Literatur, Bilder, ...) rund um existierende und bekannte Objekte miteinander zu konfrontieren, um zu versuchen, die Art und Weise ihrer Verwendung konkret und physisch nachzubilden. Dies ist ein multidisziplinärer Bereich, der z.B. die Auswirkungen/Funktionsweise der Waffe, die menschliche Physiologie, mögliche und notwendige Handgriffe und Exerziersreglemente kombinieren muss. Der Redner erläuterte den Prozess anhand von zwei konkreten Beispielen: dem Einsatz des Langspießes und des Kavalleriesäbels. Die experimentelle Geschichte ermöglicht ein besseres Verständnis der schriftlichen Quellen, eine bessere Kenntnis der Waffen (und ihrer Wirkung im Kampf) und eine aktualisierte Weitergabe des Wissens.

Nach dieser Reihe von Präsentationen der verschiedenen Quellentypen und Methoden folgte ein Überblick über die Möglichkeiten, Informationen zu bewahren und in das Spektrum der Hilfsmittel für die historische Forschung aufzunehmen.

David Glaser stellte eine partizipative Lösung vor: die Website "notrehistoire.ch" der Fonsart-Stiftung. Dabei handelt es sich in der Basis um die digitalisierten Archive des Fernsehens RTS und verschiedene Privatarchive; sie werden der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt. Derzeit sind mehr als 100.000 Dokumente (Foto, Video, Audio,...) verfügbar, die in fast 5.000 thematischen Galerien gegliedert sind (darunter zum Beispiel die Galerie mit dem Titel "Nos citoyens soldats"). Private Mitwirkende können unter Einhaltung einiger Regeln zusätzliche Dokumente bereitstellen; die Datenbank wächst somit ständig. Das Konzept ermöglicht es, bei einer thematischen Suche mehrere Aspekte eines Thema miteinander zu verknüpfen. Die Plattform existiert auch für die italienischsprachige Schweiz (lanostraStoria.ch) und in Graubünden mit (nossaIstorgia.ch). Eine deutsche Version ist in Vorbereitung.

Dr. Erika Hebeisen konzentrierte sich darauf, die institutionelle Aufgabe aufzuzeigen, materielle Quellen zu sammeln, zu bewahren, zu zeigen und zu vermitteln; dies ist die Rolle der Museen. Diese können für ihre Sammlungen spezifische Ausrichtungen vorgeben. In jedem Fall ist dies die traditionelle Art der Zusammenstellung, Erhaltung und Weitergabe des kulturellen und historischen Erbes eines Landes. Die Rednerin untermauerte ihre Aussage, indem sie zeigte, welche Informationen eine Sammlung von "Trench Art" enthalten kann. Dabei handelt es sich um Gegenstände, die von Soldaten, Gefangenen, Zivilist*innen oder Internierten aus verschiedenen Abfallmaterialien hergestellt wurden: gebastelte, gravierte und geschnitzte Objekte. Man findet hier (manchmal verrückte...) Zeugnisse über das Alltagsleben oder die Kameradschaft, aber auch – und dies insbesondere in der Schweiz- über die Art und Weise, wie man "die Zeit totschlug". Auf diese Weise berührt man nicht nur konkrete Zeugnisse, sondern auch eine Form der Soziologie.

Divisionär Claude Meier sprach über Auftrag, Vision, Strategie und Herausforderungen im Zusammenhang mit der Erhaltung des ausgemusterten Armeematerials. Es geht dabei um die Erhaltung des Kulturguts, das aus Material und Ausrüstung besteht, die der Truppe zugeteilt waren, und das repräsentativ für die historischen und technologischen Entwicklungen ist, aber auch um die Ergänzung durch Gegenstände und Systeme, die ausser Dienst gestellt werden. Es geht also darum, auszuwählen und zu bewahren, zu dokumentieren und zu würdigen. Die Objekte der "Sammlung des historischen Materials der Schweizer Armee" dienen somit nicht nur der Veranschaulichung der Geschichte, sondern auch dem Erzählen von Geschichten. Die grössten Herausforderungen sind der Platz und die Bedingungen für die Lagerung, die Unterhaltsarbeiten, der Aufwand für die Dokumentation und die Varianten der Präsentation sowohl für die Forschung als auch für die breite Öffentlichkeit.

Zum Abschluss des Tages betonte Kathleen van Acker, dass es "ohne Dokumente keine Geschichte gibt". Aber man darf darunter nicht nur schriftliche Dokumente verstehen; Dokumente mit Archiv- und Quellenwert sind polymorph und werden es immer mehr sein: schriftlich, visuell, mündlich, physisch, ... Im militärischen Bereich informieren schriftliche Dokumente vor allem über die Verwaltung und die Führung, während andere Quellen reicher an Informationen über das Funktionieren der Dienste und das Leben der Menschen sind. Die Recherche erfordert daher eine geistige Aufgeschlossenheit und die Fähigkeit zur Interdisziplinarität. Acker schlägt vor, den eingangs zitierten Satz umzuformulieren in "No trace, no history". Dieser Satz ist unter zwei Gesichtspunkten zu interpretieren: man muss die Geschichte der Vergangenheit dort nachforschen, wo die Spuren sind, aber man muss auch heute Spuren hinterlassen im Hinblick auf die Geschichte, die in der Zukunft geschrieben werden soll.

Das Kolloquium 2021 der SVMM wurde von den Anwesenden sehr geschätzt, dank der Vielfalt der behandelten Themen, der Qualität der Referierenden und schliesslich des kohärenten Gesamtbildes, das sich daraus ergab. Unsere Vereinigung wird sich wie üblich daran machen, die redigierten, ergänzten und illustrierten Versionen der verschiedenen Vorträge in einem später zu veröffentlichenden Band zusammenzustellen, der eine neue Quelle für die Militärgeschichte unseres Landes darstellen wird.

Dominique ANDREY

Cdt C (lib)

Président ASHSM/SVMM