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Das Gefecht bei Gisikon vom 23. November 1847. Druckgrafik von 1848. Das Gefecht bei Gisikon vom 23. November 1847. Druckgrafik von 1848. Schweizerisches Nationalmuseum

MEINUNG - Geburtswehen einer Willensnation

Ein Bürgerkrieg im November 1847 einte die Schweiz, auch entlang der Sprachgrenzen. Schulter an Schulter kämpften Deutschschweizer und Romands auf beiden Seiten.

Der Sonderbundskrieg, der am 3. November 1847 begann und schon am 29. November mit dem Sieg der liberalen Kantone über den katholisch-konservativen «Sonderbund» endete, ist ein Ruhmesblatt der Schweizer Geschichte: Immerhin forderte er rund 150 Tote und 400 Verwundete (über die endgültigen Zahlen wird gestritten). Dies stellt zwar eine eidgenössisch temperierte Opferbilanz dar; nicht umsonst hat der amerikanische Historiker Joachim Remak diesen Mini-Krieg – mit Blick auf den amerikanischen Sezessionskrieg – als «A Very Civil War» bezeichnet, als einen «sehr zivilisierten Bürgerkrieg». Aber für unser als Konkordanzdemokratie gepriesenes Land ist es doch etwas peinlich, dass auch hier der «nation building»-Prozess nicht ohne Krieg ablief.

In ganz Europa genau beobachtet

Entsprechend stiefmütterlich wurde der Sonderbundskrieg lange auch von der Geschichtsschreibung behandelt. In Wirklichkeit verdient er mehr Beachtung. Denn erstens wurde er in ganz Europa sehr genau beobachtet und galt Liberalen und Linken – am Vorabend des grossen Revolutionsjahrs 1848 – ein bisschen wie eine Generalprobe zum grossen Aufstand. «Im Hochland fiel der erste Schuss», dichtete Ferdinand Freiligrath, der Sozialist Friedrich Engels schrieb eine ganze Abhandlung. Doch auch auf konservativer Seite verfolgte man das Geschehen. Wie der Freiburger Historiker Francis Python nachgewiesen hat, wurde unter Frankreichs Konservativen 1847 sogar Geld für den Sonderbund gesammelt. Zweitens war der Sonderbundskrieg ein sehr besonderer Krieg mit paradoxen Auswirkungen. Zugespitzt könnte man sagen: Er spaltete die Schweiz – und schweisste sie zusammen. Nicht nur machte er den Weg frei zur Gründung des Schweizer Bundesstaats, sondern er brachte auf eine gewisse Weise auch Schweizer aus verschiedenen Sprachgruppen zusammen.

Der Ursprung des Konflikts reicht weit zurück; wir erzählen im Zeitraffer-Tempo nur die letzte Phase der Vorgeschichte. In den 1830er Jahren, im Zeichen der «Regeneration», kamen die Liberalen in mehreren Kantonen an die Macht. Liberale Verfassungen wurden angenommen, die auf «revolutionären» Prinzipien wie bürgerlicher Freiheit und Volkswahlrecht beruhten. Auch wurde immer wieder die Forderung nach der Revision des «Bundesvertrags» von 1815 erhoben, der die Eidgenossenschaft am Ende der Napoleonischen Kriege als lockeren Staatenbund von 22 weitgehend souveränen Kantonen konstituiert hatte. Diese Forderung stiess aber auf vehementen Widerstand der Konservativen und Föderalisten, vor allem in den katholischen Kantonen. Und weil die revisionsfeindlichen Stände bis in die 1840er Jahre die Mehrheit an der Tagsatzung hielten, wurde die Revision regelmässig abgelehnt.

In den 1840er Jahren wurde der Konflikt verhängnisvollerweise religiös aufgeladen. 1841 hoben die Aargauer Liberalen, die in ihrem Kanton die Regierung übernommen hatten, die Klöster auf. Dies war ein klarer Verstoss gegen den Bundesvertrag. Die Katholisch-Konservativen protestierten – und reagierten. Die konservative Luzerner Regierung berief die Jesuiten nach Luzern. Der Jesuitenorden galt im liberalen Lager als Bannerträger der katholisch-konservativen Reaktion.

Luzerner, Berner und Aargauer Liberale riefen nun zu Freischaren Zügen gegen Luzern auf, von denen der zweite, angeführt vom späteren Berner Bundesrat Ulrich Ochsenbein, im März 1845 bei Malters von Luzerner Truppen zusammengeschossen wurde: Es gab 28 Tote und 500 Gefangene. Kurz danach wurde der Führer der Luzerner Konservativen ermordet. Sieben katholisch-konservative Kantone (Uri, Schwyz, Unterwalden, Luzern, Zug, Freiburg und Wallis) schlossen sich hierauf in einer «Schutzvereinigung» zur Verteidigung des katholischen Glaubens und der kantonalen Souveränität zusammen. Die Liberalen prangerten diesen «Sonderbund» ihrerseits als Verstoss gegen den Bundesvertrag an.

Revision des Bundesvertrags

Nachdem sich die Radikalen in Genf 1846 an die Macht geputscht und die Liberalen im Kanton St. Gallen im Mai 1847 die Mehrheit gewonnen hatten, verfügten die Liberal-Radikalen an der Tagsatzung über die Mehrheit von dreizehn Stimmen. Im Juli 1847 sprach sich die Tagsatzung für die Revision des Bundesvertrags, im September für die Ausweisung der Jesuiten aus.

Im Oktober 1847 entschied die Mehrheit der Tagsatzungsgesandten, die Auflösung des Sonderbunds allenfalls mit Gewalt durchzusetzen. Die Sonderbundskantone waren zum Widerstand entschlossen und boten eine Armee auf, die unter den Oberbefehl des (reformierten) Bündner Offiziers Ulrich von Salis-Soglio gestellt wurde. Die Tagsatzung mobilisierte ihrerseits eine eidgenössische Armee. Zu ihrem General wurde der Genfer Konservative Guillaume Henri Dufour gewählt. Dies war eine glückliche Wahl, denn der brillante und nicht mehr junge Genfer Offizier, Ingenieur und Kartograf war entschlossen, den kommenden Krieg so schonend wie möglich zu führen.

Anfang November begannen die Kriegshandlungen. Den sieben Sonderbundskantonen stand die Armee von 13,5 Kantonen gegenüber (die Kantone Neuenburg und Appenzell Innerrhoden standen abseits; Basel-Stadt war anfangs neutral und unternahm Schlichtungsversuche, stellte jedoch nach deren Scheitern seine Truppen dem eidgenössischen Oberkommando). Die Kräfte waren ungleich: Die eidgenössische Armee bestand aus rund 100000 Mann. Wie Rudolf Jaun im Standardwerk «Geschichte der Schweizer Armee» schreibt, war sie den 80000 Mann des Sonderbunds auch hinsichtlich Organisation, Disziplin und Ausrüstung haushoch überlegen.

Dufours Plan bestand darin, zuerst das von reformiert-liberalen Kantonen umgebene Freiburg einzukesseln und zur Kapitulation zu zwingen, um sich danach gegen die Innerschweiz zu kehren. Konzentration der Kräfte war das Prinzip. Zwei Divisionen und eine Brigade marschierten am 3. November von Westen, Süden und Nordosten her in den Kanton Freiburg ein. Sie trafen kaum auf Widerstand. Am Abend des 12. Novembers standen die Truppen mit 25000 Mann vor den Freiburger Stadtmauern. Dufour setzte darauf, mit dieser Demonstration der Stärke die Freiburger Behörden zur Kapitulation zu bewegen und Blutvergiessen zu vermeiden.

Freiburg kapituliert

Das Vorhaben klappte, beinahe. Am Vormittag des 13.November schickte Dufour einen Emissär nach Freiburg und forderte die bedingungslose Kapitulation. Die Freiburger Regierung beantragte einen 24-stündigen Waffenstillstand, den Dufour genehmigte. Doch dann geschah etwas Unerwartetes. Eine Waadtländer Brigade, die nordwestlich der Stadt einen Wald durchkämmte, kam – nachdem von der einen oder der anderen Seite ein Schuss abgegeben worden war – unter das Feuer der Freiburger Artillerie. Die früh einfallende Nacht machte dem Gefecht ein Ende. Auf dem Boden lagen sieben Tote und fünfzig Verletzte, alles Waadtländer. Dufour und der Freiburger Oberkommandierende Philippe de Maillardoz glaubten an ein Missverständnis und hielten sich weiter an den Waffenstillstand. Am nächsten Morgen entschloss die Freiburger Regierung, welche die ganze Nacht getagt hatte, zu kapitulieren. Viele Freiburger Soldaten fühlten sich verraten, bei der Rückgabe der Waffen vor dem Zeughaus kam es zu Tumulten. Der Bischof musste die Leute besänftigen.

Die eidgenössischen Truppen marschierten hierauf in die teils menschenleere Stadt ein. Die Okkupation erfolgte weitgehend diszipliniert, doch ein Teil der Besatzer, offenbar Berner, wütete wüst in der Jesuitenkirche. Eine von den Radikalen einberufene Volksversammlung übernahm die Macht. Die Regierung trat ab.
Freiburgs Aufgabe wirkte auf die Verbündeten wie ein Schock. Dufour wandte sich jetzt gegen die Innerschweiz. Das Ziel war es, nun Luzern wie eine Boa constrictor zu umschlingen. Am 21. November kapitulierte Zug, ohne einen Tagsatzungssoldaten gesehen zu haben. Danach begann die Umfassung der Stadt Luzern. Am 23. November kam es bei Meierskappel und beim Dorf Gisikon zu Gefechten. Sie führten vor allem bei den eidgenössischen Truppen zu schmerzlichen Verlusten, doch ihr Vormarsch konnte nicht aufgehalten werden. Am Abend des 23.November standen an die 80 000 Mann vor den Toren Luzerns.

Am Tag darauf beschloss die Luzerner Regierung die bedingungslose Kapitulation. Die Luzerner Regierung und ein Teil der Sonderbundsprominenz setzten sich mit dem Schiff «Waldstätten» nach Uri ab. Kurz darauf kapitulierten auch die Urschweizer Kantone. Es blieb jetzt nur noch das völlig isolierte Wallis. Am 29. November ergab sich auch dieser Kanton, kampflos. Der Krieg war nach 26 Tagen zu Ende.

Einmal mehr Glück gehabt

Der liberale Sieg – wie auch die humane Kriegführung Dufours – ebnete den Weg zur Gründung des Schweizer Bundesstaates, der folgenden September Wirklichkeit wurde. Die erste Bundesverfassung von 1848 stellte einen Kompromiss zwischen liberalen und konservativ-föderalistischen Postulaten dar. Dennoch dauerte es lange, bis die Wunden, die der Krieg dem Land geschlagen hatte, endgültig heilten. Erst mit der Abschaffung der letzten gegen die katholische Kirche gerichteten «konfessionellen Ausnahmeartikel» Ende des 20. Jahrhunderts wurde der Konflikt wirklich beendet.
Aber auf eine paradoxe Weise hat der Sonderbundskrieg die nationale Kohäsion des Landes gestärkt. Dieser Konflikt trennte nämlich die Schweiz nicht entlang der Sprachgrenzen, sondern die Konfliktlinie überkreuzte sich mit anderen – konfessionellen, ideologischen – Trennlinien (Politologen sprechen von «cross-cutting cleavages»). Denn im Sonderbundeslager befanden sich ausser der deutschsprachigen Innerschweiz auch die mehrheitlich welschen Kantone Freiburg und Wallis; auf der anderen Seite neben den deutschsprachigen und welschen Kantonen auch das italienischsprachige Tessin und das mehrsprachige Graubünden.
Die Auseinandersetzung zwischen der liberalen und der konservativen Schweiz neutralisierte einen möglichen Sprachenkonflikt: Ein Graben schüttet den anderen zu. Der Krieg schuf auch Solidaritätsbande über die Sprachgrenzen hinweg. Die Schweiz hat einmal mehr Glück gehabt.

Christophe Büchi

Dieser Artikel erschien in der Nummer 47 vom 24. November 2022 der Wochenzeitung Die Weltwoche und wird hier mit der wohlwollenden Genehmigung des Autors nachgedruckt.

Christophe Büchi, ehemaliger Westschweizer Korrespondent der NZZ, ist der Autor der Standardwerke Röstigraben. Das Verhältnis zwischen deutscher und welscher Schweiz (NZZ Libro) und Mariage de raison. Romands et Alémaniques : une histoire suisse (Editions Zoé).

Christophe Büchi

Christophe Büchi, ehemaliger Westschweizer Korrespondent der NZZ, ist der Autor der Standardwerke "Röstigraben. Das Verhältnis zwischen deutscher und welscher Schweiz" (NZZ Libro) und "Mariage de raison. Romands et Alémaniques : une histoire suisse" (Editions Zoé).

Christophe Büchi, ancien correspondant en Suisse romande de la NZZ, est l'auteur de l'ouvrage de référence « Röstigraben. Das Verhältnis zwischen deutscher und welscher Schweiz » (NZZ Libro) - cet ouvrage n’existant malheureusement qu’en allemand…- et de « Mariage de raison. Romands et Alémaniques : une histoire suisse » (Editions Zoé)